Ausgraben auf israelisch
Updated: Oct 26, 2020
Sie wissen sicher, dass ich Archäologin bin, und dass ich die Zeit, die ich nicht damit zubringe, von einer Sehenswürdigkeit zu anderen zu ziehen, auf archäologischen Ausgrabungen arbeite.
Eine Ausgrabung ist ein Mikrokosmos mit allem drum und dran, mit eigener Kultur, eigener Sprache, eigenem Essen, eigenen Sitten und Ge-bräuchen. Und von denen möchte ich heute ein wenig berichten.
Wir alle verbinden Israel automatisch mit der Bibel, und die Geschichten der Bibel mit Archäologie. Der ein oder andere hat schon von Wilson, Schumacher (nein, nicht Michael, sondern Gottlieb), Macallister, Robinson (nein, nicht Crusoe, sondern Edward) oder Flinders Petrie gehört, gelehrten Abenteurern oder verwegenen Gelehrten, wie man's nimmt, die vor über hundert Jahren mit Bibel und Spaten in der Hand den Geschichten des Alten und Neuen Testamentes buchstäblich auf den Grund gingen. In orientalische Gewänder gehüllt, ritten sie über geschichtsträchtige Stadthügel, wurden von arabischen Banditen ermordet, von Beduinenscheichs zum Gelage empfangen und von ihren Arbeitern verehrt oder an der langen Nase herumgeführt. Eines ist dabei unumstritten: Ohne sie wären Megiddo, Qumran, Jerusalem, Gezer oder Lachisch nicht das, was sie sind, faszinierende Zeugen der bewegenden Geschichte Israels und Palästinas.
Ich habe nie an einem dieser Plätze gearbeitet, kann Ihnen aber versichern, dass es heute und zumindest dort, wo ich ausgrabe, in Apollonia, Caesarea oder Ramle, genauso abenteuerlich zugeht.
Mord und Totschlag können wir getrost weglassen, gewiefte Arbeiter und kulinarische Freuden in der Frühstückspause gibt es dagegen immer noch.
Für die meisten sind Ausgrabungen Plätze ehrfürchtiger Stille, an denen Forscher die Erde krümelweise wegräumen, und ständig vor sensationellen Funden knien, die das Potential dazu haben, die Geschichte neu zu schreiben ... Letzteres stimmt, Ersteres nicht, und auch das mit dem “sensationell“ ist Auslegungssache. Viele Funde werden durch harte Knochenarbeit aus der Erde geholt. Hacke und Spaten kommen öfter zum Einsatz als Pinsel und entsorgte Zahnarztinstrumente, und es herrscht meistens hektische Betriebsamkeit, beziehungsweise, es wäre schön, wenn es so wäre.
Aber da hakt es! Die modernen Retter der Altertümer sind in den meisten Fällen nämlich eher unbegeisterte Helfer: moslemische, jüdische und christliche Arbeiter, denen aufgrund der sozialen Chancenungleichheit nichts anderes übrigbleibt, als jeden Job anzunehmen, der verfügbar ist.
Mit dieser misslichen Situation arrangieren sie sich jedoch auf kreative Art und Weise und werden insbesondere erfinderisch, wenn es darum geht arbeitsmäßiges Blendwerk auf die Beine zu stellen. Den ersten Platz in dieser Hinsicht haben bisher meine Arbeiter in Ramle gewonnen. Und zwar so:
Wenn einer von ihnen am Grabungsrand hockte – was eigentlich immer der Fall war – war er vollauf davon in Anspruch genommen, Tee oder Kaffee für die anderen zu kochen. Kam ich in die Nähe, wurde mir flugs auch eine Tasse von diesem und jenem Zeugs aufgeschwatzt. Die anderen achteten währenddessen tunlichst darauf, ein gleichmäßiges Bewegungsmoment hinzulegen und erzeugten so eine Atmosphäre beständiger Betriebsamkeit.
Am Ende des Tages allerdings musste ich feststellen, dass es anstelle eines stattlichen halben Meters nur dünne zehn Zentimeter in die Tiefe ging und das auf einer Fläche von gerade mal vier auf vier Meter. Sie hatten mir also die ganze Zeit mit gutaussehenden aber fruchtlosen Muskelspielchen imponiert, und ich war darauf reingefallen! Zog ich daraufhin ihre Stärke in Zweifel, waren sie zutiefst beleidigt. Und das zu Recht, schließlich lag es nicht am mangelnden Bizeps!
Sie glaubten so sehr an ihre ehrliche Schaffenskraft, dass sie die Arbeitsleistung augenblicklich drosselten, um mir zu zeigen, wie sehr sich doch der Anblick produktiven Fast-Stillstandes von ihrem vormals regen Treiben unterschied ...
Jetzt war es an mir zu bedauern, dass ich die empfindliche, levantinische Seele tief gekränkt hatte, und ehe ich mich versah, fand ich mich in der absurden Position wieder, meine stolzen Orientalen darum bitten zu müssen, wieder so betriebsam nichts zu tun wie vorher.
Doch egal wie heftig ich mich noch kurz zuvor mit ihnen gestritten hatte, in der Pause wurde ich, ohne Widerrede zu dulden, zum Frühstück eingeladen. Sie packten das Kücheninventar aus, fingen an Schnitzel aufzuwärmen und Eier zu braten. Dazu gab es würzig eingelegte Oliven aus dem Hain hinterm Haus, selbstgemachten Labane-Käse, Honig aus Eukalyptusblüten... Sie hätten wahrscheinlich auch ganze Lämmer mitgebracht, wenn die Zubereitung nicht so lange gedauert hätte und entschuldigten sich wortreich für die Speisenarmut.
Wenn ich nicht schon verheiratet gewesen wäre, hätte ich jetzt sofort einen meiner Arbeiter geheiratet, nur um zu einer küchenfesten, arabischen Schwiegermutter zu kommen!
Kaum waren Teller und Pfannen weggeräumt, ging es in die nächste Gradwanderung zwischen enttäuschter Produktivitätserwartung und atemberaubendem Fundreichtum. Was Funde betrifft, ist es der Erde nämlich egal ob jemand motivationslos an ihr herumkratzt oder herzhaft reinhaut. Sie beschenkt jeden überschwänglich.
„Was war dein schönster Fund?“, werde ich oft von Gästen gefragt. Doch anstatt mit leuchtenden Augen von Gold und Edelsteinen zu erzählen, grüble ich nach einer Antwort. Denn die ist garnicht so einfach.
Gefunden habe ich zwar schon einiges, aber der materielle Wert ist nie proportional zum Herzklopfen, dass man dabei empfindet, wenn solch ein Stück Vergangenheit langsam aus dem Vergessen auftaucht. Letztens auf dem Weg ans Tote Meer ist mir die ultimative Antwort eingefallen:
Meine schönsten Funde sind die, die eine Geschichte zu erzählen haben! Tongefäße, so klein, dass sie nur als Puppengeschirr für verträumte Mädchen gedient haben können, aus Speckstein geschnitzte Kästchen, in denen Makeup angerührt wurde, Duzende von Amphoren an dem Ort zerbrochen, wo sie eigentlich dazu aufgestellt worden waren, um den Wein, der in ihnen aus den Weiten des Mittelmeeres importiert wurde, kühl zu halten. Oder stellen Sie sich vor, Sie entdecken auf einem Bild der Jahrhundertwende ein junges Mädchen, das mit genau so einem Vorratskrug,
wie den, den Sie Scherbe für Scherbe aus der Erde geklaubt haben, posiert!
Archäologie heißt, hinter die Kulissen schauen zu dürfen und die Geschichten der Vergangenheit erzählen zu können. Doch nicht die von Politik und Kriegen, Friedensverträgen und Klosterregeln, sondern die des alltäglichen Lebens in all seiner Tiefe, mit all seinem Reichtum.