Mittelalterliche Graffiti

An vielen Orten kann man zuschauen wie Mauern langsam von Graffiti überzogen werden. Einer fängt an und alle machens nach. Das Graffiti könnte ja schön sein, wenn es von einem Künstler an den Mann bzw. auf die Fläche gebracht worden wäre, doch leider sind die meisten der Verschönerungsversuche eher fragwürdig. Da bekunden die Initialen von X schnöde dass er dagewesen ist, und Y schwört Z genauso einfallslos mit "Y + Z" ewige Liebe. Überall geht es anonym zu. Kaum einer hinterlässt mehr als zwei Buchstaben, vielleicht noch seinen Vornamen, und wenn es dann doch mal etwas mehr sein soll, steht da "Anarchie forever“ oder "Mahlzeit“ ...

Dabei ist kein Gebäude zu heilig kein Gemäuer zu altehrwürdig. Schauen Sie doch bloß in Jerusalem. Graffiti von übereifrigen Pilgern kann man allernorts finden, sei es an der Klagemauer oder in der Grabeskirche. Dort allerdings sieht man die modernen Kritzeleien nur in der kaum besuchten Kapelle von Joseph von Arimathea und unter den Säulen der Jungfrau Maria, wo sie in schöner Stetigkeit alles zuwuchern. In allen anderen Bereichen wachen griechische, armenische, koptische und franziskanische Mönche mit Argusaugen darüber, dass alle sich so benehmen wie sie sollen. Wer versucht zu schmieren, wird rausgeschmissen!
Man mag es kaum glauben, aber der Drang, überall seine Meinung draufzukritzeln und seine Unterschrift drunterzusetzten, stammt nicht erst aus dem 20. Jahrhundert. Schon vor Jahrhunderten erkannten die Menschen die wohltuende Wirkung von schriftlichen Botschaften an die breite Öffentlichkeit und setzten sie zur Behandlung von innerer Unruhe und Angst vorm Vergessen ein.

Das wohl eindrücklichste Beispiel dafür ist die Geburtskirche in Bethlehem, die älteste ununterbrochen genutzte Kirche der Welt. Kriege und Vernachlässigung haben an dem Gebäude ihre Spuren hinterlassen. Der Dachstuhl war instabil und undicht, die Haupthalle der Kirche durch Staub, Ruß und Feuchtigkeit angegriffen, der uralte Wandschmuck unter jahrhundertealtem Putz begraben. Zwischen 2013 und 2019 erfuhr die Kirche dringend notwendige Renovationsarbeiten, und unter der Leitung eines italienischen Restauratorenteams wurde der Dachstuhl repariert, morsche Balken ausgetauscht und undichte Stellen geschlossen. Mit einer thermographischen Kamera wurden die Wände abgescannt um unter dem Putz liegende Wanddekorationen aufzuspüren. Dabei glückte den Restauratoren die wohl spektakulärste Entdeckung der Renovationsarbeiten, eine überlebensgroße Engelsfigur die zu den mittelalterlichen Wandmosaiken gehört die König Almarich I. im 12. Jahrhundert u.Z. in Auftrag gegeben hatte. Während andere Teile des prächtigen Mosaiks schon seit Jahrhunderten offenlagen, hatte die über zwei Meter große Figur aus farbigem Mosaik, Perlmutt und Goldauflagen eine kleine Ewigkeit unter dickem Putz auf ihre Enthüllung warten müssen.

Hinter diesem Sensationsfund blieb eine andere Entdeckung zurück. Als man die 44 Säulen der Kirchenhaupthalle vom Schmutz der Jahrhunderte reinigte erstrahlten nicht nur die 33 kreuzfahrerzeitlichen Malereien von Herrschern und Heiligen in neuer Farbenpracht. Durch ihre gedeckten Farben unter dem schwarzen Kerzenruß komplett verborgen, kamen nun unzählige Graffiti zum Vorschein. Sie zeigen Texte in Arabisch, Latein und, wie es scheint, in Altfranzösich und Mittelhochdeutsch, und dazwischen immer wieder Wappen und Helme.

Letztere sind spektakulär. Auf den Helmen geben sich Schwan, Pelikan, Keiler, Wolf, Büffelhörner und sogar Mohrenköpfe ein Stelldichein. Eine kleine Recherche im Internet zeigt, dass im Mittelalter Wappen und Helmzier mit Schwänen, Mohren, Ebern, ganz zu schweigen von Büffelhörnern, wie Sand am Meer entstanden.

Um herauszufinden welchen Familien nun Wappen und Helme zuzuordnen sind, müsste ich mich in Heraldik richtig gut auskennen. Tue ich aber nicht! Stattdessen bewundere ich die mal mehr mal weniger gelungene Ausführung der Arbeiten und gebe mich dabei keinen Illusionen hin. Die Hochwohlgeborenen haben das nicht selbst gemacht, sondern machen lassen. Anno dazumal konnten nämlich die meisten Herren, egal wie adelig sie waren, nicht malen geschweige denn lesen und schreiben. Genausowenig kann ich mir vorstellen, dass ein rüstungsstarrender Ritter oder goldbehängter Adelsmann während seines Besuches in der Geburtskirche auf einen Hocker geklettert ist um in stundenlanger Arbeit sein Wappen nebst Helmzier an die Wand zu pinseln.

Wieviele hundert Jahre die Graffiti an den Säulen unterm Kerzenruß verborgen lagen lässt sich schwer sagen. Keiner der Maler hat die Jahreszahl vermerkt. Bleiben also nur die Schrift- und Helmtypen. Bei der Schrift gerate ich völlig ins Abseits. Ich bin immer erstaunt, wieviel ich vom mittelalterlichen Mittelhochdeutsch verstehe, wenn es mir nur jemand in lateinischer Umschrift vorlegt. Wenn es allerdings darum geht die Schnörkel selbst zu entziffern oder zu schreiben werde ich zum Erstklässler. Das einzige, was ich erkennen kann, ist, dass die Schrift neben dem Schwan- und Pelikanhelmen wohl älter ist, als die über den Helmen mit Drachen, Büffelhörnern. und Wolfskopf.
Bei den Helmen ist es da schon ein wenig einfacher. Die meisten sind einfache Variationen der Topfhelme die ab dem 12. Jahrhundert gebräuchlich wurden und bis ins 14. Jahrhundert Verwendung fanden. “Todschicke“ (im wahrsten Sinne des Wortes) Dinger in Kübelform in denen man schlecht sah und wohl genauso schlecht hörte. Ein paar Säulen weiter gibt es Stechhelme, die sich im 15. und 16. Jahrhundert aus dem Topfhelm entwickelt haben und nur als Turnierhelme getragen wurden.

Auch sie sehen nicht viel ansprechender aus. Im besten Fall haben sie den Charme einer Schmolllippe und im schlimmsten den eines akuten Kiefervorbisses. Nicht umsonst wird der Stechhelm auch „Krötenkopfhelm“ genannt.
Meine Einteilung ist bestimmt zu grob, aber ich bin mir sicher, dass die angeheuerten Wappenmaler es mit den Details der Helme nicht so genau nahmen. Schließlich ging es nicht darum, ob der Helmtyp nun besonders realistisch getroffen wurde, sondern was auf dem Helm drauf war. Das war auf den Säulen der Geburtskirche genauso wichtig wie beim Turnier. Bei geschlossenem Visier wusste man nämlich nicht mehr wer in der Rüstung steckte. Je größer also das Viech das obendrauf hockte, umso leichter wurde es, den Schwerverpackten mit richtigem Namen anzusprechen.

Die Geburtskirche ist nicht der einzige Ort an dem man mittelalterliches Graffiti findet. Einmal an den heiligen Stätten, muss man nur den Blick von den Hauptattraktionen abwenden um sie zu finden. So steht hoch oben auf der Säule links des Einganges in die Grabeskirche in rot geschrieben „s lugio piero vendrame“ und die Jahreszahl „1389“.

Und auch im Abendmahlssaal auf dem Zionsberg findet man unter der Gewölbedecke Graffiti.

Allerdings sind sie hier nicht mit Tusche aufgemalt sondern in den Stein gemeiselt. Das wohl deshalb, weil die rauhe Oberfläche der mit Kammmeiseln bearbeiteten Kalksteine das Schreiben und Zeichnen zu einer ziemlich holprigen Angelegenheit gemacht hätte.

Was heute als Schmiererei angesehen ist, war vor hunderten von Jahren ein Bekenntnis. Man war, oft unter Einsatz seines Lebens, zu den heiligsten Orte der Christenheit gereist, hatte ihre göttliche Aura gespührt, aufgenommen und schließlich mit sich nach Hause getragen. Mit seinem Namen rief man sich Gott und all den Pilgern, die wie man selbst nach Vergebung und Erfüllung suchten, in Erinnerung. Und längst wieder zurück in der Heimat verkündet so mancher der Namen für alle Ewigkeit „Seht, ich bin hier gewesen!“.
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